“Jüdische Häuser” in Prag, Herbst 1940

Als am Freitag, den 13 September 1940 die jüdische Bevölkerung von Prag die jüdische Gemeindezeitung, Jüdisches Nachrichtenblatt aufschlägt, konnten sie die auffällige, in fett gedruckte Ankündigung, auf der Titelseite, nicht übersehen. Die Überschrift: Neuregulung jüdischer Wohnungsmietung in Prag verkündete kurz und knapp, dass die Zentralstelle jüdischer Auswanderung die Verordnung: daß Juden in Prag freie Wohnungen nicht mehr mieten dürfen erließ. Von da an war es der jüdischen Bevölkerung in der Hauptstadt nur mehr erlaubt, in Gebäude die bereits oder kurz vorher, von Juden und Jüdinnen bewohnt wurden, umzuziehen.1  Schon mehr als ein Jahr versuchte das jüdische Wohnungsreferat verzweifelt, für eine stetig wachsende Anzahl an Juden und Jüdinnen, Unterkünfte zu finden. Deren Bemühungen wurden viele Herausforderungen entgegengestellt, unter anderem willkürliche Beschlagnahmungen Häuser der Juden und Jüdinnen durch die deutsche Besatzung oder die verweigerung vieler Vermieter und Vermieterinnen nicht arische Mieter und Mieterinnen anzunehmen. Die Verordnung: Neuregulung jüdischer Wohnungsmietung in Prag, leitete einen besonders unheilvollen Schritt in der Verfolgung der böhmischen und mährischen Juden und Jüdinnen ein. Denn die Maßnahme war nur eine von mehreren kritischen Dekreten die im Herbst 1940, das Wohnungswesen im Protektorat für jüdische Einwohner und Einwohnerinnen neu definierte und sie in ein sogenanntes Ghetto ohne Mauern zwängte. 

Vom Anfang der Sudetenkrise bis hin zum Sommer 1940, zog eine große Anzahl an Juden und Jüdinnen von Böhmen und Mähren nach Prag, um vom stetig wachsenden  Antisemitismus in ihrer Heimat zu fliehen und des weiteren Wege für die Auswanderung zu suchen. Zuerst kamen die Juden und Jüdinnen aus dem Sudetenland  im Sommer und Herbst 1938. Aber in den folgenden Monaten nach der deutschen Besetzung im März 1939 zogen auch andere Juden und Jüdinnen aus dem Protektorat in die Hauptstadt. Obwohl der ursprüngliche Plan der SS Zentralstelle für jüdische Auswanderung, alle jüdischen Einwohner und Einwohnerinnen des Protektorates in Prag zu versammeln, unterbrochen werden musste wegen dem Krieg, verzeichnete die Jüdische Gemeinde im September 1939 einen rasanten Anstieg individueller Migranten aus der Provinz.2 Daraufhin hat die Gemeinde ein spezielles Wohnungsreferat gegründet um für die neu Angekommenen Unterkünfte zu suchen.3  Im spät Oktober 1939 vermerkte die Abteilung das ankommen: zahlreiche Juden aus der Provinz, für welche nur mit grosser Mühe die geeigneten Zimmer gefunden werden.4 

Dieses Unterfangen verkomplizierte sich auch durch die gleichzeitige Erhöhung der einheimischen Prager Juden und Jüdinnen, die ebenfalls eine Unterkunft brauchten. Manche hatten anscheinend ihren Mietvertrag schon gekündigt in Erwartung zu emigrieren, nur um dann festzustellen, dass sie für ihre Abreise die erforderlichen Genehmigungen, beziehungsweise Visas nicht arrangieren konnten. Insgesamt meldete die Gemeinde einen höheren Bedarf an kleineren Wohnungen, ein Zeichen der wachsenden Armut unter der jüdischen Bevölkerung, da sie ihre Arbeit verloren hatten und die Vermögen eingefroren waren, konnten sie sich die aktuellen Mieten nicht mehr leisten.5  Mit dem Neujahr von 1940 überflutete eine neue Welle an Bewerber und Bewerberinnen das Wohnungsreferat. Der wöchentliche Bericht der Gemeinde schrieb: der Umstand, dass immer mehr arische Hausbesitzer Juden nicht mehr aufnehmen wollen, zwingt die Interessenten, von der selbstständigen Wohnungssuche abzusehen und stattdessen sich an die Gemeinde wenden.6  In den nächsten Monaten, häuften sich die Neuigkeiten von gekündigten Mietverträgen und plötzlichen Räumungen in den wöchentlichen Berichten der Gemeinde an die Zentralstelle. Egal ob, Vermieter und Vermieterinnen die Jüdischen Mieter und Mieterinnen vertrieben aufgrund von Antisemitismus oder im Glaube sie fänden besser zahlende arische Mieter und Mieterinnen die sogar weniger Risiko für die Vermietenden bedeuten würde, die Entwicklung bedeutete einer immer größere Last für die Gemeinde. Zu Beginn des Frühlings 1940 flehte das Wohnungsamt in einem anderen Bericht an die Zentralstelle: Die Lage am Prager Wohnungsmarkt wird von Tag zu Tag kritischer und nimmt bereits katastrophale Formen an. 7 Etwas später im selben Monat verschärfte sich das Dilemma sogar noch mehr, als auf einmal die gesamten Mietverträge der jüdischen Bevölkerung in kommunalen Wohnungen aufgelöst worden waren.8  Bis zum Ende des Monats Juni 1940, verzeichnete das Wohnungsreferat der jüdischen Gemeinde Prag, dass 11648 Juden und Jüdinnen um  Hilfe angesucht hatten.9

Nur etwa drei Tage vor der Ankündigung: Neuregelung jüdischer Wohnungsmietung in Prag befahl die SS der jüdischen Gemeinde, eine vollständige Liste aller Wohnungen in denen  Juden und Jüdinnen sesshaft waren anzufertigen.10  Der Zeitpunkt der beiden Maßnahmen war kaum zufällig, denn die deutschen Besatzer wollten eine klare Anzahl aller Wohnungen, in denen Juden und Jüdinnen lebten, um sie in der Möglichkeit untereinander hin und herzuziehen beschränken und die Grundlage für die Beschlagnahme der Grundstücke legen zu können. Kritischerweise forderte die Zentralstelle nicht eine Liste von Immobilien im Besitz von Juden und Jüdinnen, sondern von allen, in denen jüdische Menschen lebten, unabhängig davon, wer das rechtliche Eigentum an der Immobilie besaß. Der Plan, sich die Kontrolle über alle derartigen jüdischen Wohnungen anzueignen, wurde am 7. Oktober 1940 öffentlich deutlich, als das Büro des Reichsprotektors ankündigte, dass die SS-Zentralstelle die Genehmigung erteilen müsse, bevor ein Vermieter oder Vermieterin eine Wohnung neu vermieten könne, die zuvor von einem Juden oder Jüdin bewohnt wurde. Mit anderen Worten, ein Eigentum sollte als jüdischer Wohnsitz betrachtet werden, wenn eine jüdische Person derzeit in der Unterkunft lebte, unabhängig davon, wem das Eigentum gehörte.

Lidové noviny (die Volkszeitung) erklärte den verwirrten arischen Vermieter und Vermieterinnen: Nářízení mluví o bytech, pronajatých Židům, tedy nerozlišuje, je-li pronajamatel Žid či arijec. Je jedině rozhodující, jaké rasy je nájemník, který v bytě byl naposledy (Diese Verfügung spricht von an Juden vermietete Wohnungen und unterscheidet daher nicht ob der Vermieter oder Vermieterin jüdisch oder arisch ist. Nur die Rasse des Mieters, der zuletzt im Wohnsitz lebte ist entscheidend).11  Diese Verordnung rassifizierte somit de facto die Ziegel und den Mörtel, die die Wohnräume umhüllten, und beschränkte summarisch die Macht zahlreicher nichtjüdischer Menschen (sowohl tschechischer als auch deutscher), über ihr eigenes Eigentum frei zu verfügen. 

Die rassifizierung des Wohnraums durch die Nazis gab den jüdischen Mietern und Mieterinnen jedoch versehentlich die Möglichkeit, sich gegen skrupellose Vermieter und Vermieterinnen zu verteidigen. In Form eines passiven Widerstands ergriffen Beamte der jüdischen Gemeinde im Protektorat das Dekret vom 7. Oktober, um ihre Mitglieder zu schützen. Als Marie Baders Vermieterin in Prag versuchte, sie zum Umzug zu zwingen, wandte sie sich verzweifelt an einen Kontakt in der jüdischen Gemeinde, der ihr sagte, sie solle sich keine Sorgen machen, weil sie in einer jüdischen Wohnung lebte, die nur mit Zustimmung der Zentralstelle neu vermietet werden konnte. Bader erklärte in einem Brief an ihren Geliebten in Griechenland: Seit gestern weiss ich bestimmt, dass ich meine Wohnung behalten kann, resp. behalten muss, resp. dass die Hausfrau meine Übersiedlung nicht verlangen kann, weil sie überhaupt kein Recht hat, über die Wohnung zu verfügen.12 Außerhalb von Prag setzten lokale jüdische Beamte und Beamtinnen dieselbe Taktik ein, um aggressive Vermieter und Vermieterinnen abzuwehren. Im Bezirk Slaný (Schlan) schrieb eine ältere Frau, die von der Räumung bedroht war, an den Vertreter der jüdischen Gemeinde: V zoufalém stavu obracím se opět na Vás… mám strach… jsem sama opuštěná. (In einem verzweifelten Zustand wende ich mich wieder an Sie... ich fürchte... ich bin allein gelassen worden). Der Beamte antwortete: Račte upozorniti svého p. domácího, že podle nařízení p. Reichsprotektora für Böhmen und Mähren ze dne 7.října 1940 je nutno ohledně další disposice s uvolněným bytem po židovi vyžádat si souhlas Zentralstelle für jüdische Auswanderung Prag…. Bez souhlasu uvedeného úřadu nemůže býti disponováno s bytem uvolněným po Židovi. (Bitte beachten Sie bei Ihrem Vermieter, dass gemäß dem Befehl des Reichsprotektors für Böhmen und Mähren vom 7. Oktober 1940 die Zustimmung der Zentralstelle für jüdische Auswanderung Prag eingeholt werden muss, um eine frei gewordene Wohnung nach einem Juden weiter zu vermieten. Eine von einem Juden geräumte Wohnung kann ohne Zustimmung des genannten Amtes nicht vermietet werden).13 Die jüdische Gemeinde in Holešov (Holleschau) wies einen jüdischen Vertreter im nahe gelegenen Bystřice pod Hoštejnem ebenfalls an, dass er, obwohl Juden und Jüdinnen keine Mieterrechte mehr hatten, den Vermieter informieren sollte: že by z vypovědí této rodiny neměl žádných výhod, jelikož byt nemůže…znovu pronajmouti a že by proto bylo pro něj výhodnější, kdyby uvedenou rodinu v bytě ponechal (dass er von der Entlassung dieser Familie nicht profitieren würde, da er die Wohnung nicht vermieten kann und es daher für ihn vorteilhafter wäre, diese Familie in der Wohnung zu behalten).14 

Die Bemühungen der jüdischen Gemeinde, konnten die Juden und Jüdinnen vor der Vertreibung durch private Gartenbesitzer und Besitzerinnen schützen, jedoch nicht vor der Zentralstelle, die in den nächsten zwei Jahren die Eigentumslisten verwendete, um die jüdische Bevölkerung in immer weniger und weniger Wohnungen in bestimmten Bezirken der Hauptstadt und in anderen Städten des Protektorats zu konzentrieren.

Der Herbst 1940 brachte, nicht zufällig, auch eine radikale Einschränkung der Bewegungsfreiheit der Juden des Territoriums mit sich. Drei Tage nach der Verordnung des Büro des Reichsprotektors des 7. Oktobers, erließ der Innenminister des Protektorats, Jaroslav Ježek auf Geheiß der Besatzer, eine Richtlinie, die es Juden untersagte, ihren Wohnort ohne vorherige Genehmigung der Behörden zu wechseln.15  Somit war die unabhängige Umsiedlung von Juden und Jüdinnen aus den Provinzen nach Prag offiziell beendet. Danach bestraften die Behörden Juden und Jüdinnen, die von sich aus aus umgezogen sind, darunter beispielsweise Evžen Markovits, den die Polizei im August 1941 festnahm, weil er ohne vorherige Genehmigung innerhalb der Stadt Prag gezogen war. Für Markovits war dies nur eine von mehreren Verhaftungen, die er erduldete, was letztendlich zu seiner direkten Verlegung im Juni 1942 aus dem Gewahrsam der Prager Polizei in das Sammellager im Bezirk Holešovice, danach nach Theresienstadt und letztendlich zu seinem Tod in das deutsch besetzte Weißrussland.

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Evžen Markovits im 1940 (Foto: Národní archiv ČR, fond Policejní ředitelství)

 

Erläuterungen

1:

Jüdisches Nachrichtenblatt/Židovské listy II:37 (13 Sept. 1940), S. 1.

2:

Jüdische Kultusgemeinde (JKg) Prague, Wochenbericht 6/1939 (27.8-1.9), S. 7. Yad Vashem Archives (YVA), 07 CZ/53.

3:

Das Wohnungsreferat war Teil der Abteilung für soziale Wohlfahrt der jüdischen Religionsgemeinschaft, die bis 1942 um die 312 Mitarbeiter beschäftigte. Helena Krejčová, Jana Svobodová, und Anna Hyndráková, Židé v Protektorátu: Hlášení Židovská náboženská obec v roce 1942. (Prag: Ústav pro soudobé dějiny, 1997), S. 18. 

4:

JKg Wochenbericht 14/1939 (21-27.10), S. 4. YVA 07 CZ/53.

5:

JKg Wochenbericht 11/1939 (30.9-6.10), S. 5; JKg Wochenbericht 12/1939 (7-13.10), S. 5; JKg Wochenbericht 22/1939 (15-21.12), s. 7. YVA 07 CZ/53.

6:

JKg Wochenbericht 2/1940 (7-12.1.40), S. 9. YVA 07 CZ/54.

7:

JKg Wochenbericht 14/1940 (30.3 – 5.4.40), S. 9-10. YVA 07 CZ/55.

8:

JKg Wochenbericht 17/1940 (20-26.4.40), S. 5; JKg Wochenbericht 19/1940 (4-10.5.40), S. 4. YVA 07 CZ/55.

9:

JKg Wochenbericht 14/1940 (30.3 – 5.4.40), S. 9-10. YVA 07 CZ/55.

10:

JKg Vierteljahresbericht, III. Vierteljahr 1940, S. 26. YVA 07 CZ/56.

11:

Pronajímání bytů Židům, Lidové noviny (30 Oct. 1940), Moravský zemský archiv Brno, f. B26, k. 2366, inv.č. 2132, Předpisy o židech, S. 1048.

12:

Brief vom 4 Jänner 1941. Marie Bader, Life and Love in Nazi Prague: Letters from an Occupied City, ed. von Kate Ottevanger und Jan Láníček (London: Bloomsbury Academic 2019), S. 51-52.

13:

Archiv Židovského muzea Praha (AŽMP) [Archiv des jüdischen Museums in Prag], f. Židovská náboženská obec (ŽNO) Slaný, inv. č. 66, sign. 102903: Bytové záležitosti (1940-41).

14:

AŽMP, f. ŽNO-Holešov, poř. č. 34, sign. 62696, Změny bytů (1942), s. 1534.

15:

Aufenthalt von Juden in Böhmen und Sommerfrischen und Verbot der Wohnsitzänderung, Präsidium des Ministeriums des Inneren, Nr. E-3443-2/10-40 (10 Oct. 40),NA, f. Ministerstvo vnitra – Nová registratura, k. 12041, sign. E-3443. S. 315

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